Umgangsformen sind heute wichtiger denn je.
Zumindest sehe ich das so. Wir haben mehrere Jahre der hoheitlich vorgeschriebenen Trennung vom sozialen Leben erlebt, dass vielen in der Bevölkerung das menschliche Zusammenleben bzw. die soziale Interaktion regelrecht schwer fällt. Wir gehen einerseits bewusster auf Distanz zu anderen, andererseits suchen wir wieder vermehrt ein gemeinsames Leben mit der Masse in unserer Freizeit. Es wird zunächst lockerer miteinander umgegangen und vermehrt geduzt, um dann in manchen Alltagssituationen verunsichert zu sein und von einem in ein anderes Fettnäpfchen zu treten.
All diese pauschalierten Gegensätze zeigen allerdings, dass ein gewisses Maß an gemeinschaftlichen Regeln das Zusammenleben weit mehr erleichtern können, als sie es vielleicht einengen. Vergleichen wir es einmal mit Regeln im Straßenverkehr: Die Straßenverkehrsordnung zeigt uns den Umgang miteinander im Verkehr und hilft (meist) ein unfallfreies Weiterkommen auf unseren Straßen.
Ähnlich verhält es sich bei sozialen Kontakten. Gäbe es keine grundlegenden Umgangsformen, wir würden uns höchstwahrscheinlich nach einer gewissen Hierarchie sehnen, damit es nicht zu einem Recht des Stärkeren kommt.
Die rigiden Strukturen, die meist noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gegolten haben sind längst nicht mehr so ausgeprägt vorhanden, denn wir wissen, dass sich alles im Laufe der Zeit weiterentwickelt, gleichgültig ob gut oder unvorteilhaft. Es hat sich auch gezeigt, dass sich derartige Entwicklungen, wenn sie z.B. zum Nachteil reichen, langsam, aber doch, wieder eine andere Richtung einschlagen. Es ist fast wie in der Marktwirtschaft, in der Angebot, Nachfrage und Leistung über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
Meine Erfahrung hat allerdings gezeigt, dass sich jüngere Menschen in, für ältere Generationen als Standardsituationen geltenden Momenten, häufig unsicher fühlen und dementsprechend verhalten. Daraus folgt wiederum eine auffällige Verhaltensweise, die sowohl in mehr Distanz als auch grenzüberschreitendem bis hin zu tätlichem Verhalten gegenüber anderen führen kann.
Gute Umgangsformen sind heute keine Selbstverständlichkeit
Wie schon erwähnt resultiert der Mangel an Umgangsformen hauptsächlich aus der Unsicherheit und auch aus der Unbeholfenheit vieler Jugendlicher. Es ist eine große Herausforderung jungen Menschen moderne Umgangsformen näher zu bringen, da ihnen meist schon die elterliche Vorbildung fehlt. Das heißt, dass sich viele Eltern heute keine Gedanken darüber machen, was eine reduzierte Weitergabe von grundlegenden Umgangsformen bewirken kann.
Eltern von heute streben nach einer modernen Erziehung, die auf Verständnis und Demokratie basiert. Das Generationenbarometer des Allensbacher Instituts für das Forum „Familie stark machen“ zeigt, dass fast 90 Prozent der befragten Eltern mit Kindern unter 16 Jahren Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen als wichtige Erziehungsziele betrachten. Darüber hinaus geben 70 Prozent an, dass ihre Kinder lernen sollten, sich nicht leicht entmutigen zu lassen.
Nur noch 38 Prozent der Befragten betrachten es als wichtig, dass ihre Kinder sich an Hierarchien halten. Es ist daher wenig überraschend, dass Kinder immer „übertrieben“ selbstbewusster werden und Eltern zunehmend Schwierigkeiten haben, sich durchzusetzen. Die Betonung von Selbstvertrauen und Durchsetzungskraft als primäre Lernziele hat jedoch auch ihre Nachteile, da sie die Angst vor möglichen negativen Folgen des Grenzensetzens verstärkt. Aus diesem Grund versuchen viele Eltern oft erst gar nicht, diese zu setzen.
Eltern müssen Leitwölfe sein!
Jesper Juul, dänischer Familientherapeut und Autor zahlreicher Erziehungsbücher, betont die Wichtigkeit, dass Eltern „Leitwölfe“ sein müssen. Er erklärt, dass das Aussprechen von „Nein“ ein Akt der Liebe ist, der dem Kind hilft, Empathie zu entwickeln und die Grenzen anderer zu respektieren. Wenn Eltern jedoch Ja sagen, obwohl sie Nein meinen, führt dies zu einem Vertrauensbruch beim Kind und beeinträchtigt seine Fähigkeit, mit Enttäuschungen umzugehen. Juul betont, dass es für Kinder wichtig ist, auf die Realität vorbereitet zu sein und dass Eltern berechenbar sein sollten, anstatt ständig das Kind zufriedenstellen zu wollen. Dies hilft ihnen, besser mit Ablehnung und Grenzen umzugehen, denen sie im Leben begegnen werden.
Moderne Umgangsformen lernt man nicht nur in einem Seminar!
Genau das möchte ich allen gerne an meine teilnehmenden Jungen und auch älteren Menschen weitergeben. Ein oder mehrere Seminare allein reichen niemals aus, Sicherheit in der Anwendung moderner Umgangsformen zu erlangen. Wie bei allem ist regelmäßiges Training wichtig. Mit jedem Seminar kann ich einen roten Faden weitergeben, der helfen kann, sich besser orientieren zu können.
Hat man allerdings schon Grundlagen von seinen Eltern mitbekommen, dann ist das Besuchen solcher Seminare ein Feinschliff.
Wie begrüßt man heute?
Alleine schon das Thema „Begrüßung“ zeigt, wie viel Unsicherheit in unserer Zeit existiert: Handschlag ja oder nein, siezen oder duzen, „Hallo“, „Servus“ oder „Guten Tag“, und so weiter und so fort sind nur ein paar Elemente, die für manche schwierig sind, gut eingeordnet werden zu können.
Hoffen wir, dass es eine gewisse Hierarchie in unserer Gesellschaft noch gibt, dann kann man getrost davon ausgehen, dass man die Hand zum Gruße erst dann reicht, wenn dies die ranghöhere Person zuerst anzeigt. Das allgemein verbreitete „Du“ sollte gegebenenfalls auch wieder von den ranghöheren bzw. älteren Personen ausgehen. Bedenken wir, dass eine höfliche Distanz untereinander, nicht nur zu Vorgesetzten, immer von Vorteil sein kann, wenn man gegenseitig Grenzen wahren möchte.
Und zwei Tatsachen, die unbestritten nicht an Gültigkeit verloren haben:
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- Wenn ich gegrüßt werde, dann grüße ich zurück bzw.
- wenn ich einen Raum (dazu gehört auch ein Fahrstuhl!) betrete, dann grüße ich zuerst!
Umgangsformen beim Essen – das große Manko der Masse
Umgangsformen bei Tisch sind heute großteils stark unterentwickelt. Und damit meine ich jetzt nicht, dass alle mit Austerngabeln oder Hummerscheren perfekt umgehen können sollten.
Das vermehrte Angebot an Fast und Street Food ist einerseits ein angenehmer Faktor geworden, hat sich aber auf der anderen Seite zu einem gewaltigen Umgamgsformenkiller entwickelt. Das bedeutet auch, dass viele Menschen ein (hoffentliches angenehmes) Essen bei Tisch – sogar in der Mittagspause – durch ein schnelles Verzehren von vorgefertigten Imbissen an allen ungewöhnlichen Orten ersetzen.
Wir kennen alle die oftmaligen Berichte darüber, dass der Speisenkonsum in den öffentlichen Verkehrsmitteln schon seit vielen Jahren ein Aufreger ist. Prinzipiell stehe ich dem Verzehr von Speisen und Getränken vor allem im Nahverkehr sehr kritisch gegenüber. Bei langen Zugfahrten schaut dies natürlich anders aus, da ja Speisewägen schon oft der Vergangenheit angehören und sogar von den einzelnen Betreibern ein OnBoard-Service angeboten wird, das uns direkt am Platz bewirtet.
In Straßenbahnen oder Linienbussen sind vor allem Speisen mit einem starken Geruch, der nicht für jeden Fahrgast angenehm ist, extrem störend. Abgesehen davon können viele dieser „Snacks“ auch aufgrund ihrer Beschaffenheit zum allgemeinen Unwohlsein beitragen, da sie meist lästige Flecken verursachen können – und das hauptsächlich bei anderen und nicht bei einem selbst!
Die weit verbreitete Einstellung, dass man dann im konkreten Fall nicht die Ursache für die Be- bzw. Verschmutzung sei, trägt umso mehr dazu bei, dass man zum Feindbild wird. Es ist einfach respektlos während der Stoßzeit ein z.B. vor Fett und Saucen triefendes Dönertier inmitten vom Alltag genervter Fahrgäste ohne Rücksicht auf Verluste diverser Zutaten in sein Maul zu stopfen.
Bei Tisch – Karriere fördern oder killen
Nebenbei sollte man immer bedenken, dass Umgangsformen beim Essen und vor allem bei Tisch häufig ein wichtiger Faktor im Geschäftsleben sind. Das Verhalten am gedeckten Tisch, bzw. das Umgehen mit den am Tisch befindlichen Utensilien zeigt schnell, ob man ein positiver Repräsentant des Unternehmens ist, auch in den Außendienst entsandt wird und eventuell ein Kandidat für Führungspositionen ist. Da in solch gehobenen Positionen oft Geschäftsessen an der Tagesordnung stehen, sollte man, wenn man beabsichtigt in der Karriereleiter aufzusteigen, auch bei Tisch (sogar unscheinbar) sicher wirken.
Besonders auffällig ist in den letzte Jahren geworden, dass viele junge Menschen z.B. die Gabel entweder wie einen Bleistift oder wie einen Eispickel halten. Auch wenn dies vielleicht nichts über den Charakter dieser Person aussagt ist es für Vorgesetzte oder Tischnachbarn – rein äußerlich betrachtet – oft ein Indiz dafür, dass man eventuell Wichtigeres nicht gut im Griff haben könnte oder es an (Fingerspitzen-) Gefühl mangeln könnte.
Optisch wirkt der unbeholfene und|oder grobe Umgang mit Messer und Gabel ebenfalls problematisch, zeugt er doch davon, ob man gewisse grundlegenden Umgangsformen mit ins Leben bekommen hat. Abgesehen davon birgt es ein gewisses Verletzungspotential in sich, wenn man mit Gabel oder Messer in der Gegend herumfuchtelt.
Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt und Wertschätzung
Diese vier Begriffe stehen abslut im Einklang mit den von Eltern weiter oben geforderten Grenzen, die deren Kinder anderen gegenüber setzen sollten. Mit einem gewissen Abstand zu anderen hat man immer auch einen entsprechenden Anstand. Daher kann man sicher mit dem respektvollen „Sie“ diese entsprechende Distanz wahren, dennoch höflich sowie respektvoll sein und andere wertschätzend behandeln. Nichts spricht gegen ein freundliches „Du“. Es ist aber mit einem wertschätzenden „Sie“ weit anspruchsvoller andere Personen zu erniedrigen, respektive selbst herablassend behandelt zu werden, als mit einem inflationär verwendeten „Du“.
Auch im US-Amerikanischen Raum, wo der gegenseitig benutze Vorname in Gesprächen bei uns vermeintlich ein „Du“ annehmen lässt, ist die Verwendung eines bewusst eingesetzten „Sir“ oder Madam“ die Grenzziehung, die man ab und an verwenden sollte, wenn man wie bei uns „per Sie“ sein möchte.
Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen verliert also man nicht, wenn man andere mit Würde und Respekt behandelt. Es zeugt sogar von einer gewissen Stärke, wenn man im Alltag anderen Menschen mit einer gebotenen Distanz begegnet und dennoch freundlich, höflich, respekt- und würdevoll agieren kann.
Fazit: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Dieser Vers aus der Bergpredigt hat bis heute nach wie vor seine Richtigkeit. Es ist eindeutig klar, dass sich ein positiv motiviertes Verhalten mehr als nur förderlich auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Wenn Sie mit anderen respekt- und würdevoll umgehen, dann kann man, bei aller Wahrung der jeweiligen Grenzen, immer ein zumindest freundliches Verhalten seines Gegenübers erhalten.